Jetzt lachst du wahrscheinlich, peinlich berührt, wie leicht du zu durchschauen bist. Außerdem hoffst du immer noch auf einen Scherz. Tut mir leid, meine Liebe, aber ich muss dich enttäuschen. Die Angelegenheit ist bitterernst. Dass die Tür nach deinem Eintreten ins Schloss gefallen ist, war kein Zufall und auch kein Windstoß, und dass du sie nicht wieder öffnen kannst, liegt nicht daran, dass der altersschwache Türrahmen verzogen ist. Du bist hier unten gefangen, meine Liebe, und wenn du jetzt nicht deinen Hochmut hintanstellst und aufmerksam aufpasst, wirst du hier unten dein Ende finden.
Bestimmt willst du dieses Blatt nun zornig in deiner Hand zerknüllen, es am liebsten zerreißen, aber glaube mir, das wäre keine gute Idee, denn dann bist du endgültig verloren. Wenn du allerdings die Nerven behältst, kannst du deine Haut vielleicht noch retten.
Habe ich deine Aufmerksamkeit? Gut.
Hörst du dieses Ticken? Wahrscheinlich bemerkst du es erst jetzt, obwohl es bereits in derobwohl es bereits in der Sekunde eingesetzt hat, als die Tür hinter dir zugefallen ist. Es stammt von dem Kästchen, das auf dem Tisch vor dir steht. Diese ausgeklügelte Apparatur wurde mir von einem guten, überaus findigen Freund zur Verfügung gestellt, der sich auf mechanische Spielereien wie diese spezialisiert hat. Siehst du das Tastenfeld, das an der Seite befestigt ist? Das mit den gusseisernen Buchstaben, die aussehen, als hätte sie jemand in mühseliger Kleinarbeit von einer antiken Schreibmaschine gelöst? Das ist deine Rettung, meine Liebe. Das – und die Kartons mit den Geschichten, denen du wahrscheinlich bis jetzt keinerlei Beachtung geschenkt hast.
Es sind dieselben Geschichten, die du vor ein paar Wochen für tot erklärt und dich zu lesen geweigert hast. Geschichten, an denen mein Herz hängt. Geschichten, in die ich genug Vertrauen setze, um zu glauben, dass sie ein Leben retten können.
Manche dieser Geschichten wollen dich zum Nachdenken bringen, andere wollen dich ängstigen, und wieder andere wollen dich einfach nur unterhalten. So unterschiedlich sie auch sind, jede einzelne enthält auch ein kleines Stück einer größeren Wahrheit. Du wirst bald begreifen, wie ich das meine.
Irgendwo in diesen Schachteln steckt der Code in die Freiheit. Allerdings werde ich dir natürlich nicht verraten in welcher. Du musst die Geschichten schon lesen, um das herauszufinden. Deine Aufgabe: Finde den Code und gib ihn in das Kästchen ein. Anschließend bist du frei und kannst dein Leben wie gewohnt weiterleben.
Aber lass dir besser nicht zu viel Zeit. Das Ticken des Apparats ist nicht ohne Bedeutung – es misst die Zeit, die dir bleibt, um die Lösung zu finden. Sobald sie abgelaufen ist, gibt es für dich hier keinen Weg mehr hinaus – dann bleibst du hier unten gefangen. Wie lange das dauern wird, behalte ich allerdings für mich, schließlich will ich nicht die Spannung vorwegnehmen.
Ticktockticktock, Schwester.
P.S.: Sollte wider Erwarten jemand anderes als Katja diese Botschaft gefunden haben, entschuldige ich mich aufrichtig für die entstandenen Unannehmlichkeiten und hoffe, dass Ihr Lesevergnügen nicht von einem langsamen, qualvollen Tod überschattet wird.
Hochachtungsvoll,
Benjamin Schauer